Im folgenden Text geht es um sexuelle Gewalt.
Betroffen sind Mädchen wie Jungen, Frauen wie Männer.
Da das nicht aus dem Text hervorgeht, möchte ich es vorab hiermit klarstellen.
Foto: morguefile.com (Adelaila)
In der Traumabiografie nach Ruppert, steht die sexuelle Traumatisierung nebst dem Trauma der eigenen Täterschaft oben auf. Das bedeutet nicht weniger als, dass sexuelles Trauma eine Folge vom Trauma der Identität und der Liebe ist (ehemals "Symbiosetrauma").
Wie schätzt man bestenfalls die Schwere eines sexuellen Traumas ein? Ich habe 7 Parameter, die ich zugrunde lege. Sie helfen mir und meinen Klienten, die Schwere der Traumatisierung zu begreifen, sich bewusst zu werden, was wirklich passiert ist. Die ersten 3 sind mit den letzten 4 ins Verhältnis zu setzen:
- Einmaliges Ereignis
- Mehrmalige Ereignisse
- Mehrere Ereignisse über einen langen Zeitraum (Monate bis Jahre)
- Sexismus / Belästigung durch Worte, Reduzierung auf den Körper
- Emotionale Gewalt /Zuschreibungen, Erpressungen
- Körperliche sexuelle Übergriffe
- Körperliche sexuelle Gewalt mit/ohne Penetration
Letztendlich ist alles, was gegen den eigenen Willen geschieht, geprägt von Gewalt.
Täter: Die Tat wird entweder verharmlost, abgestritten oder sogar ins Gegenteil verkehrt.
Gefühle: Trigger Reaktionen bzgl. des einst selbst erlebten Traumas, Wut, Verachtung, Rache, Macht, Allmachtsfantasien.
Opfer: Überlebensstrategien gipfeln nicht selten in ständiger Re-Inszenierung der Taten bis hin zur Prostitution. Das Opfer schafft sich eine eigene Täter-Opfer-Dynamik.
Gefühle: Scham, Angst, Schuld, Schmerz, Wut, Ekel.
Um das nicht fühlen zu müssen, verdreht sich alles im Opfer: Promiskuität, Sexsucht, das "Hobby zum Beruf" machen. Aufgrund der frühen Spaltung von Körper und Psyche, reagieren beide getrennt voneinander.
Wenn also der Körper Stimulation erfährt, reagiert er mit "Lust-Symptomen", die Vagina wird feucht, der Penis erigiert, die die Betroffenen glauben machen, sexuelle Lust zu erleben. Erinnerungen an die frühen gewaltsamen Ereignisse, die der Täter oft damit gerechtfertigt hat, indem er behauptete, dass das Opfer es ja so will, ja sogar erregt, geil ist und Lust hat, werden wach. Scham und Schuld des Opfers müssen wieder unterdrückt werden. Ein Kreislauf.
Wahrhaftige Lust ist etwas Ganzheitliches, den Körper, die Psyche, Spüren und Fühlen betreffend. Es stimmt schlichtweg nicht, dass das (ehemalige) Opfer Lust empfindet. Der Körper reagiert lediglich mit Erregung auf gesetzte Stimulation, sogar bis hin zum Orgasmus.
In einer Partnerschaft kann sexuelle Erregung sowohl beim Opfer selbst, als aber auch beim Partner als Trigger erlebt werden. Das Opfer muss sich dann jedes Mal spalten. Es erlebt das Zusammensein weder als erfüllend noch liebevoll, sondern der traumatisierte (Kind-)Anteil verwechselt das Heute mit dem Gestern. Spaltung und Starre sind die Folge oder Spaltung und Abreaktion des Körpers als Re-Inszenierung des unbearbeiteten Traumas.
Wenn ehemalige Opfer (Männer wie Frauen) sexueller Gewalt sich prostituieren, machen sie sich selbst und ihre "Freier" zum Opfer. Sie sind Täter an sich und bestrafen sich unaufhörlich mit ständiger Wiederholung der Taten von früher. Sie instrumentalisieren dafür traumatisierte Menschen, manchmal sogar mit der Idee es nun allen Männern oder allen Frauen heimzuzahlen. Sie fühlen sich dann als Machtperson, die die Fäden in der Hand hat, übersehen dabei, in doppelter Täterschaft sowie im Opfersein gefangen zu sein. Die gleiche Dynamik finden wir bei Menschen, die zu Prostituierten gehen, um mit ihnen Sex haben.
Eine Aufstellungsarbeit zum Thema „Das Lust-Dilemma bei sexueller Traumatisierung“ beim 4. Internationalen Kongress in München (10/2018) zeigte die Täter-Opfer-Spaltung sehr deutlich. Die Klientin war völlig zerrissen. Sie wollte für ihre traumatisierten Anteile da sein, aber auch für Ihr Ich. Das "Ich" und ihr Anteil, der für „Lust“ aufgestellt war, wollten mit dem Trauma nichts zu tun haben. Sie lehnten sich an einen männlich aufgestellten Anteil an, von dem bis zum Schluss der Arbeit keiner wusste, wer er war. Weder die Klientin selbst, noch ihre beiden Anteile „Ich“ und „Lust“ kamen auf die Idee nachzufragen. Beide vertrauten dem „ männlichen Außen“ mehr als dem Inneren der Klientin. Das wiederum erzeugte Misstrauen, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit bei den inneren abgespaltenen Kindanteilen, die zunächst Hoffnung schöpften, nun endlich gesehen zu werden. Der Klientin war bis dahin nicht bewusst, wie sehr sie blind vertraut, in der Hoffnung auf ein bisschen Zuwendung und Liebe. Ihr für "Lust" aufgestellter Anteil und ihr "Ich" waren Überlebensanteile, die ihre frühe sexuelle Gewalt immer wieder re-inszenierten, verwechselnd mit Liebe und Lust. Antriebsfeder war ihr Wunsch, ihrer Einsamkeit zu entfliehen, die die Klientin sehr früh und dauerhaft erlebt hat. Und das ihr bekannte (Trauma-) Muster war Sex.
Sex und Liebe werden nach sexueller Traumatisierung oft verwechselt. Man kann beides getrennt voneinander erleben. Sex als Abreaktion ohne Liebe zu sich selbst und zum Gegenüber oder Sex mit Liebesgefühlen, sich selbst liebend, sich selbst spürend, nachspürend was sich gut anfühlt, mit warmen Herz- und Bauchgefühlen dem/r PartnerIn gegenüber, im Einklang miteinander, nichts fordernd oder machend, was man selbst oder der andere nicht möchte.
Eine Perspektive in der IoPT
Auswege: Um aus einer Täter-Opfer-Dynamik auszusteigen, braucht es ein "Ja" zu sich, einen festen Willen, eine Bereitschaft, an sich zu arbeiten und sich dabei professionell begleiten zu lassen. Wir müssen unser damaliges Opfersein anerkennen, ebenso wie das aktuelle Tätersein. Dann können wir uns auf den Weg machen, Mitgefühl für uns und andere zu entwickeln...
Herzlichst
Ihre/Deine
Andrea Stoffers